Der Berliner Autor, Journalist und Musikwissenschaftler Martin Greve stellte 2003 in sechs Städten in NRW jeweils ein Kapitel seines Buches „Musik der imaginären Türkei“ vor und führte das Publikum durch den Bazar der türkischen Klänge. Musiken türkisch-orientalischer Klangfarbe oder türkisch-stämmiger Musiker bewegt sich nach wie vor fast exklusiv in separaten Nischen oder in Diskotheken, Vereinen und privaten Netzwerken, also abseits des mit öffentlichen Geldern finanzierten Kunstbetriebs und Kulturlebens. Die Visionen und der Alltag türkischer Bands sowie ihre musikalischen Spielarten sind – trotz mehr als 50 Jahren Migrationsgeschichte weitgehend unbekanntes Terrain geblieben. Anhand von Musikbeispielen - eingespielt und live von lokalen Bands, Chören und Solisten gespielt, berichtete er über die Hintergründe seiner Untersuchungen, seine persönlichen Erfahrungen und Begegnungen in der türkischen Musikszene in Deutschland. Martin Greve lud das Publikum, die anwesenden Musiker und Medienvertreter zu einem Erfahrungsaustausch, kontroversen Diskussionen und zu künstlerischen Kooperationen ein.
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Musik der imaginären Türkei
Musik und Musikleben im Kontext der Migration aus der Türkei in Deutschland,
Metzler Verlag, Stuttgart, 2003
Titel, Dankwort und Einleitung als PDF Download
Kapitel 1 Geschichte und Gegenwart als PDF Download
Kapitel 2 Musik im Geflecht von Identitäten als PDF Download
Kapitel 3 Konstruktion und Aufhebung kultureller Differenz als PDF Download
Nachwort und Anhang als PDF Download
(Türkische Ausgabe: Almanya’da „Hayali Türkiye’nin“ Müzigi, Bilgi Üniversitesi, Istanbul 2006)
Kontakt Dr. Martin Greve
30.04.2003 Mülheim: Anatolische Volksmusiktraditionen
Seit der Gründung der Türkischen Republik 1923 wird anatolische Volksmusik als Symbol nationaler türkischer Kultur staatlich gefördert. Die in früheren Zeiten vielfältigen und äußerst unterschiedlichen Regionalstile erleben seither eine allmähliche Vereinheitlichung - aber auch den Aufstieg zu einer immer virtuoseren und künstlerisch anspruchsvolleren neuartigen Form von Kunstmusik mit professionellen Sängern und Instrumentalisten. In Deutschland wird anatolische Volksmusik daher heute in einem breiten stilistischen Spektrum gepflegt: Teils als echte regionale Traditionspflege ohne großen künstlerischen Anspruch - etwa in den zahlreichen türkischen Landsmanschaftsvereinen -, teils in hervoragenden Volksmusikchören, deren wichtigste Vorbilder die Ensembles des öffentlich-rechtlichen türkischen Fernseh-Sender TRT darstellen. Wieder andere Formen von Volksmusik sind politisch links besetzt und werden von politischen türkischen Organisationen eingesetzt. Schließlich versuchen viele türkisch-deutsche Musiker, gemeinsam mit deutschen neue, interkulturelle Arrangements von Volksmusik zu entwickeln.
03.05.2003 Hagen: Türkische Profimusiker in Deutschland
Das gegenwärtige türkische Musikleben in Deutschland ist geprägt von Schnelllebigkeit, Flexibilität und extremer Kommerzialisierung. In praktisch jeder deutschen Stadt arbeiten heute zahlreiche türkische Hochzeits- und Studiomusiker, Tonstudios und Baglama-Lehrer, andere Musiker spielen in Musikrestaurants, Gazinos und Jugendcafés für Volksmusik. Aber auch viele türkisch-deutschen Musiker, die ihre Musik eigentlich auschließlich privat betreiben, träumen davon, eine eigene Kassette / CD aufzunehmen, und so - in der Türkei - den großen Durchbruch zu schaffen. Transnational arbeitende türkisch-deutsche Profimusiker und Produzenten veröffentlichen allmonatlich dutzende neuer türkischer Musikkassetten – für die Istanbuler Musikindustrie eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen.
05.05.2003 Mönchengladbach: Transnationale Vermarktung türkisch-deutscher Musik und ihre Schwierigkeiten
Anfang der 1990er Jahre gelang erstmals türkischen Musikern der Durchbruch ins kommerzielle internationale Musikgeschäft: zunächst Popdiva Sezen Aksu, später folgten Tarkan, Mustafa Sandal oder Sertab Erener. Etwa gleichzeitig machte die türkisch-deutsche Rapgruppe Cartel sowohl in Deutschland wie in der Türkei Furore. Immer mehr Sänger, Rapper und Produzenten versuchen seither, beide Märkte miteinander zu verbinden und schlagen sich mit den zahlreichen Unterschieden herum: Stark unterschiedliche Preisniveaus, das teilweise mafiose Geschäftsgebaren der Istanbuler Musikindustrie und die verschiedenen Erwartungen (und Vorkenntnisse) türkischer und deutscher Musikhörer.
07.05.2003 Düsseldorf: Deutsche und türkische Musiker in interkulturellen Musikprojekten
Gemessen an den noch immer stark in Deutschland vertretenen eher traditionellen türkischen Musikstilen (Volkmusik, klassische türkische Musik, türkische Popmusikformen) sind bewusst interkulturelle türkisch-deutsche Musikgruppen noch immer eine Seltenheit. Denoch finden sich hier vielfältige und musikalisch oft besonders interessante Mischprodukte, die individuelle Lösungen für die zahlreichen Probleme solcher Projekte erproben: Unterschiedliche Tonsysteme, Rhythmen, immer wieder die Sprache, aber auch Differenzen der Mentalität sowie der Proben- und Konzertgewohnheiten.
08.05.2003 Wuppertal: Türkische Kunstmusiken
In der Türkei war Kunstmusik jahrhundertelang weitgehend auf den Osmanischen Hof sowie einige Sufiorden beschränkt. Neben diese alte, im engeren Sinn osmani¬sche Kunstmusik trat, zunächst ebenfalls am Osmanischen Hof, seit etwa 1800 mehr oder weniger gleichberechtigt 'westliche“ Kunstmusik. Nach der Grün¬dung der Türkischen Republik 1923 begann sich, gefördert durch den türkischen Nationalstaat, auch die Volksmusik Anatoliens zu einer Kunstform mit eigener Ästhetik und Musiktheorie zu entwickeln. Zwischen diesen zu Beginn des 20. Jahrhundert noch getrennten Musiksprachen bestehen heute vielfältige Interaktionen. In Deutschland gestaltete sich diese ohnehin schon verwirrende Vielfalt infolge der Rahmenbedingungen der türki¬schen Einwanderung sowie aufgrund der Situation als kulturelle Minderheit noch komplizierter. So sind insbesondere in kleineren deutschen Städten nicht für jeden Musikstil ausrei¬chend viele Musiker vorhanden, so dass Ensembles zu dauerhaf¬ten stilistischen Kompromissen gezwungen sind. Hinzu kommt, dass Musiker der zweiten und dritten Migrantengeneration immer bewusster mit der Öffnung stilistischer Grenzen experimentieren.
09.05.2003 Köln: Die Musik des sunnitischen Islam – und des Alevismus
Das Verhältnis des orthodoxen Islam zu Musik ist ambivalent: Während fromme anatolische Moslems oft das Gefühl haben, Musik schicke sich für sie eigentlich nicht, war in allen islamischen Reichen und heute in den modernen Staaten wie der Türkei stets Musik gepflegt worden – weltliche Musik, aber auch ein reiches liturgisches Repertoire. Insbesondere Sufis galten in Istanbul als herausragende Komponisten, Instrumentalisten und Gesangssolisten. Im Alevismus - ursprünglich eine dörfliche, anatolische Konfession des Islam -steht Musik - Volksmusik - unangefochten im Zentrum der religiösen Kultur. In allen alevitischen Zeremonien werden zahlreiche religiöse Lieder gesungen, herausragend sind die meditativen semah-Tänze. Beinahe alle bedeutenden Volksmusiker der Türkei sind Aleviten. In Deutschland nehmen alevitische Vereine und Organisationen im türkischen Musikleben beinahe eine Monopolstellung ein, wobei sich allerdings oft eine latente Spannung zwischen religiösen und musikalisch-künstlerischen Identitäten der Musiker zeigt.